Steffen Anton, 08.11.2023
Das erste Jahrzehnt meines Lebens war für mich eine sehr spannende Zeit. Zum einen war diese Phase für mich als Kind in der DDR geprägt von Begriffen wie Altstoffsammlung und Pioniernachmittag, zum anderen aber von der Sehnsucht, endlich mal in den „Westen“ fahren zu dürfen. Diesen kannte ich nur aus dem Fernsehen und von Erzählungen meiner Eltern und Großeltern. Und natürlich aus glänzenden Katalogen sowie dem Intershop. So wie dort musste es im Westen sicher überall riechen. Dachte ich damals zumindest.
Im Jahr 1989 sollte sich auf einmal alles ändern. Für mich als Zehnjährigen waren die politischen Zusammenhänge der damaligen Zeit zwar nicht vollständig greifbar. Aber ich wusste, seit einigen Wochen lag etwas in der Luft. Immer wieder waren die Leute auf die Straßen gegangen, um für mehr Freiheit zu demonstrieren. Am Abend des 09. November, es war ein Donnerstag und kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, gab es schließlich die unerwartete Nachricht von der Öffnung der Grenzen. Plötzlich lag das Ziel meiner Träume in greifbarer Nähe.
Ich war Feuer und Flamme und wünschte mir nichts sehnlicher, als einen Ausflug in die lediglich 25 Kilometer entfernte niedersächsische Kleinstadt Duderstadt zu machen. Diese Stadt war bisher immer so nah und doch so fern gewesen. Da es Rentnern erlaubt war, einmal im Jahr für maximal vier Wochen in den „Westen“ zu fahren, hatte sich meine Oma immer wieder tagesweise zum Einkaufen dorthin begeben, und uns Kindern natürlich regelmäßig etwas mitgebracht. Doch nun würde ich selbst dort sein können. Was für eine Aussicht!
Meine Mutter hatte ich schnell von meinen Plänen überzeugt, jedoch galt es auch meinen Vater ins Boot zu holen. Dies war allerdings schwieriger, als gedacht. Um das zu verstehen, müssen wir einen kleinen Exkurs machen.
Ausreisen aus der DDR für Nicht-Rentner waren nämlich vor der Grenzöffnung nur bei runden Geburtstagen naher Verwandter möglich. Die Schwester meines Vaters hatte am 28. Oktober 1989 einen solchen, und aus diesem Anlass hatte er einige Tage zuvor eine Reise in die BRD angetreten. Und das sogar im eigenen Auto, unserem hellblauen Trabant Kombi. Das war eigentlich nicht zulässig, es sei denn, man konnte eine Gehbehinderung nachweisen und war somit auf den PKW angewiesen. Dank eines ärztlichen Attestes durfte mein Vater jedoch tatsächlich die Reise im eigenen „Trabbi“ bestreiten. Seine Abenteuer im Westen mit der Rennpappe würden Stoff genug für eine eigene Geschichte bieten, doch das soll hier nicht das Thema sein.
Jedenfalls, er hatte sich in Hannover ein Autoradio gekauft und dieses in den Trabant eingebaut. Das alte Radio hatte er unter dem Sitz verstaut. Bei der Rückreise in die DDR am 08. November legte er dem Grenzpolizisten eine Liste an mitgebrachten Gegenständen vor, das Radio allerdings war nicht aufgelistet. Beim Blick in den Wagen fielen dem Beamten jedoch die unter dem Sitz hervorlugenden Kabel des alten Radios auf, und das war fatal. Denn nun wurde das Auto meines Vaters quasi in alle Einzelteile zerlegt und er durfte sein komplettes Gepäck vor den Grenzern ausbreiten. Diese Art von „Leibesvisitationen“ waren damals leider nicht unüblich. Zwar durfte er dann nach einigem hin und her die Weiterreise antreten, jedoch wurde ihm angedroht: „Wenn wir Sie noch einmal so erwischen, dann kostet Sie das 300 Mark und Sie kommen in den Knast!“ Lange Rede, kurzer Sinn, mein Vater war verständlicherweise wenig begeistert von der Idee, sich so kurz darauf schon wieder in Richtung Grenze zu begeben. Wir schafften es jedoch mit vereinten Kräften, ihn zu überzeugen. Seine Bedingung war aber: „Falls wir allzu lange im Stau stehen, oder nicht sehr weit kommen, dann fahren wir zurück!“
Am 11. November war es endlich soweit: Es war ein Samstag und zum ersten und letzten Mal in meinem Leben schwänzte ich an diesem Tag die Schule. Ich war aber, wie ich später herausfand, bei weitem nicht der einzige aus meiner Klasse gewesen. Genau genommen hatten wohl von 14 Schülern nicht mehr als vier oder fünf am Unterricht teilgenommen.
Es war noch dunkel, als wir uns gegen fünf oder sechs Uhr morgens zu viert auf in das sagenumwobene Land machten, in dem es Spielsachen geben sollte, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. Neben meinen Eltern befand sich auch noch meine Schwester mit an Bord unseres Trabbi.
Unser Weg sollte uns über Worbis in Richtung des Grenzübergangs Teistungen führen. Während der ersten Hälfte der Strecke ging es überraschend gut voran, hatten wir doch eigentlich mit einem kilometerlangen Rückstau gerechnet. Dieser traf uns dann aber ab dem Dorf Wintzingerode doch noch mit voller Wucht, von da an ging es lediglich im stop-and-go weiter. Nie zuvor hatte ich solch eine schier endlose Schlange aus Autos gesehen, und alle hatten sie das selbe Ziel. Wir kamen nur äußerst schleppend voran, und hatten erst nach einer gefühlten Ewigkeit das Dorf Ferna erreicht. Hier zeugten erste große Scheinwerfer und Schlagbäume davon, dass wir uns unserem Ziel nähern mussten. Gleich einem stinkenden und qualmenden Wurm aus Blech und Pappe näherte sich der Autokorso Meter für Meter dem Ort Teistungen, in dem es nun ernst werden würde. Ein Grenzpolizist kontrollierte unsere Pässe - und winkte uns durch! Bis zuletzt hatten wir alle wohl irgendwie damit gerechnet, doch noch zurück geschickt zu werden. Denn eigentlich hätten wir uns für eine Ausreise aus der DDR beim Amt für „Pass- und Meldewesen“ eine entsprechende Bescheinigung besorgen müssen. Aufgrund des dortigen gigantischen Andrangs der letzten zwei Tage und wohl auch aufgrund einer gesunden Portion Optimismus hatten meine Eltern jedoch darauf verzichtet nach dem Motto: wird schon klappen. Als wir die Schranke und die zahlreichen weiteren Grenzanlagen überwunden hatten, fiel mir ein Stein vom Herzen – wir waren drüben!
Schlussendlich erreichten wir mit Gerblingerode das erste Dorf jenseits der Grenze. Mittlerweile war der Vormittag bereits weit vorangeschritten. Viele Menschen standen an der Straße und winkten uns zu. Mir fielen die zahlreichen verklinkerten Häuser, die gelben Telefonzellen mit ihren abgerundeten Kuppeln, und natürlich die Westautos auf. So wurden die PKWs der BRD seinerzeit von uns Kindern genannt. Äußerst selten hatten wir jedoch welche zu Gesicht bekommen – und hier waren sie überall!
Das Ortsschild von Duderstadt hatte ein Witzbold mit einem Pappschild überklebt, auf dem in großen Buchstaben „Trabbi Town“ geschrieben war. Offensichtlich waren wir nicht die ersten, und würden für lange Zeit auch nicht die letzten Besucher bleiben, die in Autos dieser Marke die Stadt besuchen würden. Insgesamt waren es dann übrigens um die 130.000 Grenzübertritte bis zum 13. November.
Duderstadt selbst war überfüllt. Mitten auf einer Kreuzung stand ein verzweifelter Polizist, der den Verkehr regelte. Der arme Mann tat uns leid, denn aufgrund der übel riechenden Ausscheidungen der Zweitaktmotoren litt er offensichtlich unter starken Hustenanfällen. Nachdem wir uns beim Schützenhaus einen Parkplatz erkämpft hatten, führte uns unser erster Weg zu Fuß in eine Bank, in diesem Fall war es eine Volksbank. Denn jeder DDR-Bürger bekam ein Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM. Entsprechend groß war der Andrang und entsprechend lang die Wartezeit, vor allem für einen zehnjährigen Jungen!
Nachdem diese für mich lästige Formalität erledigt war, ging es endlich dahin, wo noch nie zuvor ein Steffen gewesen war – in einen Supermarkt! Der damalige „Eins A“ war der am nächsten gelegene, und so steuerten wir diesen an. Was mich dort erwartete – es ist schwer in Worte zu fassen! Als allererstes fiel mir jedoch der Geruch auf. Es roch nach nichts, oder besser gesagt entsprach der Geruch nicht meinen Erwartungen. Kein verlockender Duft nach Seife, Waschmittel, und dem Lack frisch gedruckter Ansichtskarten, den ich aus dem Intershop kannte. Aber die Illusion war nun zerstört, und dieses gleichermaßen eigenartige und verführerische Aroma habe ich seither nie wieder wahrgenommen. Ein anderer Duft, welchen ich von nun an immer mit meinen ersten Besuchen in Supermärkten verbinden würde, war jedoch der Geruch von Backwaren und frisch gemahlenen Kaffeebohnen, den die Bäckerei im Eingangsbereich verströmte. Der Supermarkt war brechend voll. Überall gab es Delikatessen, Produkte und Marken, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Es wimmelte von genervten Menschen, die mit ihren Einkaufswägen orientierungslos umherirrten. Im Nachhinein erfuhren wir, dass die Marktleitung sogar kurz davor gewesen war, den Notstand auszurufen.
Aufgrund der Menschenmassen herrschte im Markt eine sehr stickige Luft, weshalb es mir schon nach kurzer Zeit übel wurde. Gerade so noch so kam ich dazu, mir einen Spielzeugtruck (ein roter Mack-Tieflader mit einer Straßenwalze) auszusuchen, dann musste ich das Geschäft verlassen. Draußen wurde es etwas besser, und beim Betrachten meines erbeuteten Spielzeugs war der Kummer bald verschwunden. Unser weiterer Weg führte uns anschließend noch zu Aldi, wo meine Mutter einen Teil des Begrüßungsgeldes in Lebensmittel umsetzte. Dann jedoch war bei uns allen sprichwörtlich „die Luft raus“. Da der Tag mittlerweile fortgeschritten war, machten wir uns allmählich auf den Weg, die Stadt wieder zu verlassen.
Wir erkundeten noch ein wenig die Gegend um Duderstadt und machten schließlich auf einem Parkplatz Rast. Als wir weiter fuhren, wurden wir von vielen entgegenkommenden PKW mit Lichthupe gegrüßt. Schade, dass von dieser gegenseitigen Euphorie heute nur noch wenig zu spüren ist. Am späten Nachmittag traten wir dann endgültig den Weg in Richtung Heimat an, vorbei an unzähligen wartenden Fahrzeugen: Der Rückstau von der Grenze, welcher am Morgen bereits bis Wintzingerode gereicht hatte, erstreckte sich nun auf der damaligen F80 weit über unseren Heimatort Bernterode hinaus. Wir hatten unser „erstes Mal“ glücklicherweise schon hinter uns. Bei einer Pizza Margerita und einer Dose Coca Cola ließen wir erschöpft aber glücklich den Abend ausklingen, wohl wissend dass von nun an nichts mehr so sein würde wie bisher.
Einer solch geballten Flut von Eindrücken werde ich sicherlich nie wieder begegnen. Dieser Tag markierte einen absoluten Wendepunkt in meinem Leben, und ich bin dankbar, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Alter war, in dem ich zu würdigen wusste, welch einmaliger Vorgang hier am ablaufen war. Auch Jahrzehnte später ist das noch schwer zu fassen!
Hinweis: Dieser Text erschien in wesentlich kürzeren Fassungen erstmals am 15.11.2014 in der Thüringer Allgemeinen sowie am 09.11.2019 auf Retrokram.