Von Cowboys und Drachen - Mein schönstes Kindheitserlebnis

Steffen Anton, 08.06.2024


Die Erinnerung an die eigene Kindheit ist oftmals nur lückenhaft. Viele Dinge geraten schlicht und einfach in Vergessenheit. Doch es gibt auch Ereignisse, die einem Jahrzehnte später noch im Gedächtnis bleiben und an die man sich gern zurück erinnert. Ich möchte an dieser Stelle von einem solchen Highlight erzählen. Es hat mit Indianern und Dinosauriern zu tun.

Mein Dinosaurier-Heft mit Zeitungsausschnitten von 1988.
Mein Dinosaurier-Heft mit Zeitungsausschnitten von 1988.

Dass letztere für mich aus verschiedenen Gründen schon sehr früh eine bedeutende Rolle spielten, habe ich an anderer Stelle bereits mehrfach erwähnt. Die Erstsichtung von Karel Zemans Film „Die Reise in die Urzeit“ hatte einen großen Anteil an meiner Begeisterung für die urzeitlichen Echsen. Durch diverse Bücher wurde diese Leidenschaft weiter verfestigt. Ich malte Bilder von Dinosauriern, machte Aufzeichnungen in eigens dafür angelegten Heften und sammelte jeglichen diesbezüglichen Schnipsel aus Zeitungen, dessen ich habhaft werden konnte.  

Eines meiner damaligen Kunstwerke.
Eines meiner damaligen Kunstwerke.

Eines Tages stolperte ich über einen ganz besonderen Zeitungsbericht. Er berichtete von einer Parkanlage, in welcher lebensgroße Dino-Skulpturen zu besichtigen waren. Vielleicht kann man sich meine nun folgende Reaktion ungefähr vorstellen: Ich war selbstverständlich hellauf begeistert und wollte unbedingt dort hin. Es gab jedoch ein kleines Problem: Der Park lag am anderen Ende der DDR, in der Nähe der polnischen Grenze. Also schlappe 400 Kilometer von meinem Heimatort entfernt. Solche Strecken sind für einen neunjährigen Jungen nicht mal eben zu bewältigen. Aber dazu gleich noch mehr.

Karl May

Fast ebenso groß wie meine Passion für Dinosaurier war zu damaligen Zeit mein Interesse an den Geschichten aus der Feder von Karl May. Seine Bücher waren zwar in der DDR nicht ganz leicht zu bekommen, aber zumindest auf die entsprechenden Verfilmungen hatte ich Zugriff, dem Westfernsehen sei Dank. Auf diese Weise konnte ich mir die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, aber auch die Orientfilme mit Kara Ben Nemsi anschauen und wurde ein großer Fan von ihnen. Im Nachgang wurden die Geschichten mit dem Spielzeuggewehr im Garten oder (im kleineren Maßstab) mit Cowboy- und Indianerfiguren nachgespielt. Bei näherer Beschäftigung mit Karl May fand ich heraus, dass er in Radebeul bei Dresden gewohnt hatte, und dass es dort sogar ein eigenes Museum zu seinen Ehren gab. Keine Frage, dass ich den großen Wunsch hatte, dieses einmal selbst zu besichtigen. Es gab jedoch ein kleines Problem: Das in der Nähe von Dresden gelegene Radebeul war schlappe 300 Kilometer entfernt.

Aber Moment mal, haben wir das zuvor nicht schon einmal gehört? Bei einem Blick auf eine Landkarte stellte ich fest, dass das Karl-May-Museum quasi auf der Strecke zum Dinosaurierpark lag. Nun hatte ich eine Mission: Es galt, meine Eltern von einer kleinen Reise zu überzeugen!

Reise ins Ungewisse

Dies stellte sich jedoch als nicht allzu schwer heraus, und so stand bereits nach kurzer Zeit der Plan fest. Wir würden in unserem hellblauen Trabant vom nordwestlichen Thüringen über die Autobahn, welche heute als A4 bekannt ist, in Richtung Dresden fahren. Dort war ein Zwischenstopp in Radebeul geplant, um das Karl-May-Museum zu besichtigen. Nach einer Übernachtung würden wir uns am nächsten Morgen in Richtung Kleinwelka zum Dinosaurierpark aufmachen, um uns nach dessen Besuch wieder auf den Rückweg zu begeben.
Das klingt eigentlich alles ganz einfach und unkompliziert. Doch gerade das Thema Übernachtung bereitete meinen Eltern einiges an Kopfzerbrechen. Hotels gab es in der DDR zwar in einer durchaus beträchtlichen Anzahl, gerade in den größeren Städten. Dort jedoch als normaler Bürger ein Zimmer zu bekommen, war fast unmöglich. Das klingt aus heutiger Sicht absurd, und das war es auch. Denn man hatte es seitens der (staatlichen) Hotelbetreiber eher auf mit harter Währung zahlende Gäste aus dem westlichen Ausland abgesehen. Mein Vater hatte vorab mit einem Bekannten telefoniert, welcher in Dresden wohnte. Dieser hatte ihm prophezeit, dass sich die Suche nach einem Quartier schwierig gestalten würde.
Dennoch machten wir uns an einem Herbsttag des Jahres 1988 auf den Weg und steuerten zunächst Dresden an, in der Hoffnung, dort ein Hotelzimmer zu finden. Bei drei sogenannten „Interhotels“ versuchten meine Eltern ihr Glück, doch jedes Mal bekamen sie die gleiche Aussage: Alle Zimmer seien bereits belegt. Dass dies nicht ganz stimmen konnte, sahen wir daran, dass in einem der Hotels kurz nach uns ein Gast aus der Schweiz nach einem Zimmer fragte, und prompt einchecken durfte. Die Situation war ärgerlich, aber nun leider nicht zu ändern.

Daher begaben wir uns zunächst einmal ins nahe gelegene Radebeul, in der Hoffnung, unterwegs doch noch eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Angekommen in der Straße des Museums, wollten wir jedoch zunächst eine Kleinigkeit essen. Schräg gegenüber der Ausstellung gab es einen Kiosk, an dem wir uns mit einer Bockwurst im Brötchen versorgten. Eine Übernachtungsmöglichkeit hatten wir nach wie vor nicht gefunden, deshalb erkundigte sich mein Vater diesbezüglich bei der Verkäuferin. Es stellte sich heraus, dass sie direkt nebenan ihr Wohnhaus hatte und dort ein freies Zimmer, welches sie gelegentlich privat vermietete. Natürlich machten wir von dieser Option umgehend Gebrauch und waren erleichtert wegen dieses unerwarteten Zufalls. Wir vereinbarten, dass wir erst das Museum besichtigen würden um anschließend das Zimmer zu beziehen.

In der "Villa Bärenfett"

Pierrce Brice als Winnetou.
Pierrce Brice als Winnetou.

Nun war es endlich soweit: Karl May konnte kommen. Bei dem Museum handelte es sich um zwei getrennte Gebäude. Die „Villa Shatterhand“ war direkt an der Straße gelegen und war das frühere Wohnhaus des Autors. Hier konnte man die im Original belassene Einrichtung von Mays Wohnräumen und seinem Arbeitszimmer bestaunen. Durch einen Garten gelangte man in ein Western-ähnliches Holzhaus mit dem klangvollen Namen „Villa Bärenfett“. Dieses war für mich ungleich interessanter, denn hier gab es Dioramen mit Indianern zu bestaunen und auch die berühmte „Silberbüchse“. Bevor wir das Museum nach einiger Zeit wieder verließen, durfte ich mir noch einige Souvenirs aussuchen. Neben einem Ansteckbutton mit dem Konterfei von Winnetou entschied ich mich für zwei Poster sowie ein Postkartenset. Erstaunlicherweise war es Pierre Brice, der auf den Darstellungen zu sehen war, obwohl es sich dabei doch um den „West-Winnetou“ handelte.  

Es wurde allmählich Abend, und wir begaben uns daher in unser Domizil. Das Zimmer erreichte man über eine steile Treppe und unsere Betten standen unter einer Dachschräge. Alles machte einen sehr provisorischen Eindruck. Aber es sollte ja nur für eine Nacht sein.

Am nächsten Morgen stand die nächste Etappe unserer Fahrt an. Für die restlichen 100 Kilometer begaben wir uns erneut auf die Autobahn. Dieser Streckenabschnitt war jedoch mehr als abenteuerlich. Die Straße war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden und hatte seitdem keine Erneuerung mehr gesehen. Sie glich daher eher einem Plattenweg oder einer gepflasterten Straße. In einem ohnehin schon mit schlechten Stoßdämpfern ausgestatteten PKW der Marke „Trabant“ gestaltete sich die Fahrt daher als ein wilder Ritt.

Beton-Dinos im Garten

Endlich in Kleinwelka angekommen, fielen mir als erstes die seltsamen Ortsschilder auf. Überall stand der Name des jeweiligen Ortes noch in einer anderen, ans Russische erinnernden Sprache darunter. So erfuhr ich von den Sorben, einer slawischen Minderheit, die in diesem Gebiet lebten. Kleinwelka heißt etwa auf sorbisch „Mala Wielkow“.  

Ein Postkarten-Set des Dinosaurierparks.
Ein Postkarten-Set des Dinosaurierparks.

Viel mehr interessierte mich jedoch etwas anderes. Denn wir hatten mittlerweile unser Ziel, den Dinosaurierpark, erreicht. Entstanden war dieser, weil ein Einwohner des Ortes in den 1970er-Jahren begonnen hatte, in seinem Garten aus Stahlgeflecht und Beton lebensgroße Modelle von Dinosauriern zu errichten. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Besucher angelockt und sein Garten zu klein. Daher durfte er seine Ausstellung auf das umliegende parkähnliche Gebiet der Gemeinde ausdehnen.

War ich vom Karl-May-Museum schon überwältigt gewesen, verschlug es mir hier nun endgültig den Atem. Die Saurier sahen fantastisch aus und schienen fast zum Leben zu erwachen. Am meisten beeindruckte mich ein riesiger Diplodocus, welcher auf einer Insel in einem kleinen See stand. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir uns in dem Park aufhielten, aber ich bin mir sicher, dass es mehrere Stunden waren. Leider waren wir seinerzeit nicht im Besitz eines Fotoapparats, um diese Reise zu dokumentieren. Aber auch hier gab es natürlich einen Souvenirshop, und ich deckte mich mit einigen Sachen ein. 

Am Nachmittag brachen wir schließlich wieder in Richtung Heimat auf, immerhin lag eine lange Strecke vor uns. An diesen Rückweg habe ich keine großen Erinnerungen mehr, vielleicht habe ich geschlafen und von Winnetou geträumt, der auf einem Dinosaurier reitet und Bösewichte verfolgt. Auf jeden Fall war ich überglücklich und bin meinen Eltern bis heute für dieses wunderbare Erlebnis dankbar. Fünf Jahre, bevor ich „Jurassic Park“ im Kino sehen durfte, hatte ich mein eigenes Dinopark-Erlebnis gehabt.