Steffen Anton, 20.01.2024
In meiner Kindheit hatte ich ein ganz spezielles Alptraumszenario. Ich bildete mir ein, dass kleine Männchen in der Wand neben meinem Bett wohnen, die mich nachts durch eine Tür besuchen kommen. Verursacht wurde diese Angst vermutlich durch Jim Hensons TV-Serie "Die Fraggles", in der ebenfalls kleine Gestalten vorkommen, die in einer Art Bergwerk hausen. Dieses Trauma hatte jedoch scheinbar auch positive Auswirkungen auf meine Phantasie: In der fünften oder sechsten Klasse erhielten wir im Deutschunterricht den Auftrag, einen Aufsatz in Form einer selbst erdachten Geschichte zu schreiben. Ich kann mich noch gut an das überschwängliche Lob meines Lehrers erinnern, der meine Kreativität bewunderte und mir eine große Karriere als Autor voraussagte. Zu dieser hat es zwar nicht ganz gereicht, aber die Geschichte schwirrte mir in den letzten Tagen immer wieder im Kopf herum.
Ich habe daher nachfolgend einmal versucht, sie so gut es geht aus dem Gedächtnis noch einmal aufzuschreiben. Bevor es jedoch losgeht, seien mir noch zwei kleine Anmerkungen erlaubt: Ich kannte zu dieser Zeit weder "Narnia", noch andere ähnlich gelagerte Stories. Den Titel der Geschichte habe ich mir erst nachträglich ausgedacht, aber ich finde, dass er ganz gut passt.
Das Loch
Ich wachte plötzlich auf, vermutlich von einem Geräusch. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es kurz nach halb drei war. Als ich mich im Bett aufsetzte, fiel mein Blick auf mein vom Mond beschienenes Zimmer. Alles schien wie immer. Aus dem Nebenzimmer ertönte das gleichmäßige Atmen meiner Eltern, welche tief und fest zu schlafen schienen. Gerade wollte ich mich wieder hinlegen, als ich den scharrenden, kratzenden Ton erneut vernahm. Es schien aus Richtung der Kommode zu kommen, in die meine Mutter immer meine frische Wäsche legte. Leise glitt ich aus dem Bett, erstaunt über meine eigene Courage, und schlich zu dem niedrigen Schrank. Und tatsächlich, das Geräusch wurde lauter. Es schien aus dem Möbelstück selbst zu kommen, oder von irgendwo dahinter. Ein Blick in die Schubladen brachte mir keine neue Erkenntnis, außer dass hier wieder mal eine heillose Unordnung herrschte. Ich versuchte deshalb, hinter die Kommode zu schauen, aber sie stand zu nah an der Wand. Da das Geräusch jedoch immer wieder zu hören war, entschloss ich mich, den Schrank beiseite zu schieben. Das ging erstaunlich leicht, verursachte jedoch einen ohrenbetäubenden Lärm. Ich hielt kurz inne, um zu prüfen, ob meine Eltern etwas davon mitbekommen hatten. Dies war anscheinend nicht der Fall, im Gegenteil, mein Vater schnarchte nun, dass es eine wahre Freude war. Ich versetzte dem Schrank noch einen weiteren beherzten Ruck, und hatte es nun geschafft, ihn vollständig zu verschieben. Was ich sah, verschlug mir den Atem.
In der Wand klaffte ein Loch von gut einem Meter Höhe, welches fast wie eine Tür anmutete. Es schien in einen dunklen Gang zu führen, und ganz in der Ferne sah ich so etwas wie einen Lichtschein. Ungeachtet der eventuellen Gefahren fasste ich mir ein Herz, und betrat den Gang. Ich musste etwas gebückt gehen, um mir den Kopf nicht anzustoßen. Während ich mich langsam voran tastete, schossen mir die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf. Warum hatten wir den Durchgang bisher noch nicht entdeckt? Wo mochte er wohl hinführen? Nachdem ich ein paar Meter halb gegangen halb gekrochen war, kam ich an eine Biegung, und der Lichtschein wurde heller. Schließlich nahm ich eine kleine kauernde Gestalt am Ende des Ganges wahr, die sich über etwas gebeugt hatte. Ich wagte es, noch einige Schritte zu machen und versuchte dabei so leise wie möglich zu sein. Was war das für ein Wesen? Hatte ich so etwas nicht schon einmal in meinem Märchenbuch gesehen? Ja, es konnte sich nur um einen Zwerg handeln, ich erkannte es am langen Bart und dem spitzen Hut der wie eine Zipfelmütze aussah. Was tat er da? Vor ihm stand eine Truhe, die randvoll mit goldenen Münzen und anderen Kostbarkeiten gefüllt war. Der Zwerg murmelte leise etwas vor sich hin. Dann hielt er ein - und drehte sich zu mir um! Ich war wie erstarrt, und bewegte mich keinen Zentimeter. Zum Glück hatte ich mich außerhalb des Lichtscheins seiner Lampe postiert. Einen Moment lang schien es mir, als würde er mich dennoch ansehen. Doch dann drehte er sich wieder um und wendete sich erneut seiner Truhe zu. Erleichtert atmete ich aus, denn ich hatte gefühlt eine Minute lang die Luft angehalten. Langsam machte ich kehrt und kroch den Gang zurück. Als ich wieder in meinem Zimmer war, schob ich so schnell es ging den Schrank in seine alte Position und schlüpfte ins Bett. Es dauerte nicht lange, und ich war wieder eingeschlafen.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte sofort an mein nächtliches Erlebnis. Es konnte nur ein Traum gewesen sein, oder? Ich schob die Kommode beiseite und sah - Tapete! Erleichtert rückte ich den Schrank wieder an seinen Platz und zog mich an. Ich fühlte mich nun sehr hungrig und freute mich auf das Frühstück. Gerade als ich das Zimmer verlassen wollte, sah ich etwas Glitzerndes auf dem Boden liegen. Ich bückte mich und hob es auf: Es war eine goldene Münze!
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Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 8. August 2022 auf Retrokram.